Kalter Krieg 2.0? Geopolitische Szenarien für die Welt von morgen

In diesem C! Aritkel wirft Peter Wittig, eh. deutscher Botschafter in London und Washington, einen näheren Blick auf die globalen Machtblöcke unserer Zeit.


“Die Gemengelage der internationalen Beziehungen ist mehr denn je im Fluss. Eine künftige Ordnung ist noch nicht in Sicht. Vielleicht sollten wir uns auf eine Mehrzahl von parallelen Ordnungen einstellen: bei Militär- und Sicherheit auf fortgesetzte Dominanz der USA, in der Wirtschaft auf stärkere Multipolarität, bei Technologie auf die Konkurrenz zwischen USA und China und bei Klima auf eine multinationale und „multi-stakeholder“ Ordnung. Kurzum: eine multipolare Welt – ohne Hegemon, mit parallelen Ordnungen in verschiedenen Bereichen; eine komplexere, unübersichtlichere und weniger sichere Welt als die, die wir bisher gekannt haben.”

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Kalter Krieg 2.0? Geopolitische Szenarien für die Welt von morgen

Die Rückkehr des Krieges nach Europa hält uns seit Monaten in Atem. Zu Recht ist von einem Epochenbruch die Rede. Russland führt einen klassischen Großmachtkrieg. Das hat es seit 1945 nicht mehr gegeben. So ist jedem unterdes klar geworden: die europäische Ordnung der Zeit nach 1989 ist von Putin in Schutt und Asche gelegt worden, sie ist so nicht wieder herstellbar.

“Wir leben in einer „unordentlichen“, gefährlichen Zwischenphase, einer multipolaren Welt, in der die Großmächte um die neue Ordnung ringen.”

Russlands Krieg macht plötzlich auch den Blick frei für andere geopolitische Risiken: Chinas Weg in eine autoritäre Diktatur, sein regionales Dominanzstreben und globales Ausgreifen, Europas politische Defizite und seine wirtschaftliche Verwundbarkeit, die Krise der Demokratie in den USA, die Gefahr der US-Abwendung von Europa nach 2024, die Verwerfungen in den Ländern des „globalen Südens. Die alte Ordnung ist passé, aber eine neue Ordnung hat sich noch nicht herausgebildet. Wir leben in einer „unordentlichen“, gefährlichen Zwischenphase, einer multipolaren Welt, in der die Großmächte um die neue Ordnung ringen. Vieles ist offen. Indes mögen einige Konturen der neuen geopolitischen Machtlagerungen schon sichtbar sein:

Russland

Mit seinem Überfall der Ukraine hat der russische Präsident die Grundregeln des Völkerrechts und die Prinzipien der europäischen Friedensordnung nicht nur missachtet, sondern umgestürzt. Russland ist eine offen revisionistische Macht geworden. Diese Macht beansprucht Sonderrechte in ihrer geographischen Umgebung, sie will Teile Europas wieder an sich ziehen, baut auf Partnerschaften mit autoritären Regimen, und zielt letztlich auf die Aufteilung der Welt in Einflusszonen großer Mächte. Der Machtanspruch Russlands wird unterlegt mit einer kruden großrussischen Geschichtsphilosophie – fast mythologisch überhöht. Diese Putin-Doktrin ist im Kern ein neo-imperiales Projekt.
 
Es gab Vorboten: den Georgien-Krieg 2008, natürlich die Annexion der Krim 2014, die militärische Intervention in Syrien 2015. Der jetzige Krieg Putins unterscheidet sich davon durch seine strategische Radikalität. Die wirtschaftlichen und politischen Kosten des Angriffs auf die Ukraine spielten offenbar bei Putins Entscheidung keine Rolle. Es galt der Machtprimat des Imperialen.

“Die Schwäche einer Großmacht kann zum Problem für die internationale Ordnung werden: ein geschwächtes, revisionistisches Russland ist ein gefährliches Russland!”

Kurzfristig mag der wirtschaftliche Schaden für Russland begrenzt und tragbar sein. Doch mittel- bis langfristig werden die strukturellen Kosten von Krieg und Sanktionsregime für die russische Wirtschaft erheblich ins Gewicht fallen: sei es durch Abkoppelung von westlicher Hochtechnologie, durch Rückfall in noch stärkere alte Abhängigkeit vom Export fossiler Energien oder durch fortschreitenden „brain-drain“ bei ohnehin ungünstiger Demographie. Russland wird wirtschaftlich absteigen, es wird eine schwächere Macht sein. Und genau die Schwäche einer Großmacht kann zum Problem für die internationale Ordnung werden: ein geschwächtes, revisionistisches Russland ist ein gefährliches Russland.
 
Die Sowjetunion in der Zeit nach 1945 wollte die Machtverhältnisse in Europa zementieren, sie war am Status quo orientiert. Ganz anders das revisionistische Russland Putins! Insofern ist es irreführend, jetzt von einer Neuauflage des Kalten Krieges zu sprechen. Die tatsächliche Parallele liegt in der westlichen Eindämmungsstrategie unter Führung der USA. Solange das System Putin existiert, wird das Verhältnis zu Russland durch den Aufwuchs militärischer Stärke, die wirtschaftliche Entkoppelung durch Sanktionen und den Versuch der politischen Isolierung Moskaus geprägt sein. Sicherheit Europas heißt derzeit vor allem Sicherheit gegen Russland, nicht mehr mit Russland – möglicherweise auf einige Jahre hin. Das ist wahrhaft ein neues Kapitel in den internationalen Beziehungen.

USA

Die USA haben den russischen Angriffskrieg kommen sehen – fast bis auf den Tag genau. Von Anfang an haben sie sich als entschlossene Führungsnation des Westens und als „europäische Macht“ erwiesen. Die NATO hat über Nacht eine vollkommen neue Bedeutung erhalten. EU und USA haben in Rekordzeit ein präzedenzloses Sanktionsregime gegen eine Großmacht verhängt.
 
Doch wie nachhaltig ist dieser Schulterschluss? Gewiss, unter Präsident Biden wird es keine „Normalisierung“ mit Russland geben. Das heißt aber nicht, dass die USA dauerhaft – wie im kalten Krieg – durch massiven eigenen Personaleinsatz Sicherheitsgarantien für Europa übernehmen werden. Diese Last werden die Europäer zu einem großen Teil selbst schultern müssen.

“China gilt den USA als ernsteste Bedrohung der eigenen Macht und der internationalen Ordnung als Ganzer.”

Denn es ist der Rivale China, der für die USA die absolute strategische Priorität besitzt. Dies ist die säkulare Achse, um die sich die internationale Ordnung der nächsten Jahrzehnte drehen wird. China gilt den USA als ernsteste Bedrohung der eigenen Macht und der internationalen Ordnung als Ganzer. Das ist politischer Konsens in Washington – ein in diesen Zeiten seltener Einklang.
 
Washington geht im Verhältnis zu China systematisch vor: im Sicherheitsbereich sind neue Bündnisse gegen Chinas Dominanzanspruch geschmiedet worden: die Viermächte-Allianz (die sog. „Quad“) von USA, Indien, Japan und Australien, ergänzt um den AUKUS-Pakt (Australien, Vereinigtes Königreich, USA). Der Ton von Präsident Biden in der Taiwan-Frage ist schärfer geworden. Auch ökonomisch wird die US-Schraube der Sanktionen und Exportverbote strategischer Güter stetig angezogen. Vergeltungsmaßnahmen Pekings folgen in der Regel auf dem Fuße, die Spirale der gegenseitigen Zwangsmaßnahmen dreht sich. Der Einsatz des schärfsten Schwertes steht als Drohung im Raum: US-Sekundärsanktionen gegen Peking bei Unterlaufen der westlichen Russland-Sanktionen.
 
Der Elefant China ist stets mit im Raum, wenn sich Vertreter von EU und USA begegnen. Jüngstes Beispiel: der im vergangenen Jahr ins Leben gerufene „Trade and Technology Council“ (TTC). Der TTC zielt nicht auf Handelsabkommen, sondern ist eine Art Abstimmungsgremium an der Schnittstelle zwischen Handel und Technologie. Nützlich, aber mit begrenzten Ambitionen. Aus US-Sicht ist es vor allem Vehikel zur besseren Einhegung Chinas. Ein neuer Anlauf für ein echtes transatlantisches Freihandelsabkommen wäre geostrategisch wünschenswert. Aber er ist für absehbare Zeit illusionär. Auf beiden Seiten fehlt dafür der politische Wille. Die USA befinden sich immer noch in einer protektionistischen Schleife – Freihandel ist parteiübergreifend unpopulär. Bidens „Buy American“ – Parole spricht Bände. Auch hierzulande werden Ansprüche aller Art an Handelsabkommen immer stärker hochgetrieben.

“Die größten Risiken für die internationale Ordnung gehen von der amerikanischen Innenpolitik aus. Das gilt besonders für die Sicherheit Europas.”

Wirtschaftlich bleiben die USA trotz russischem Krieg in vergleichsweiser robuster Verfassung. Sie sind netto Öl- und Gasexporteur. Die starke Privatwirtschaft ist der dominierende Akteur des Landes. Die größten Risiken für die internationale Ordnung gehen von der amerikanischen Innenpolitik aus. Das gilt besonders für die Sicherheit Europas.
 
Wie verlässlich sind die USA als transatlantischer Partner? Das Land ist politisch tief gespalten, polarisierende „Kulturkämpfe“ vergiften den öffentlichen Diskurs. Die „Zwischenwahlen“ im November stehen kurz bevor. Sie entscheiden über Wohl und Wehe der Biden-Administration mit. Umfragewerte und historischer Pendelausschlag zugunsten der Oppositionspartei legen nahe, dass die Demokraten ihre Mehrheit im Kongress verlieren. Dann geht legislativ bis zur nächsten Präsidentschaftswahl fast nichts mehr. Das tangiert auch die internationale Führungsfähigkeit der USA. Und die Präsidentschaftswahlen 2024? Niemand kann den Ausgang heute seriös vorhersagen. Aber eine Rückkehr von Donald Trump oder eines republikanischen Kandidaten seines Zuschnitts ist eine reale Möglichkeit. Dann könnte wahr werden, was Europa am meisten fürchten muss: der Rückzug der USA als „europäische Macht“.

China

Der jüngst beendete Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (CCP) bedeutete eine historische Zäsur. Peking vollzog nun offiziell den Bruch mit dem traditionellen Machtgefüge: die Amtszeit von Xi Jinping wurde unbefristet verlängert, die Führungspositionen ausschließlich mit seinen engen Gefolgsleuten besetzt, der ideologische Machtanspruch der Partei wieder etabliert, der Staatskapitalismus zulasten des Marktes hervorgekehrt. China hat sich auf den Weg in eine Ein-Mann-Diktatur begeben. Geopolitisch wird Peking sein Dominanzstreben in Ostasien und in der Indo-Pazifischen Region weiter untermauern und seinen Weltmachtanspruch festigen.
 
Allerdings sind die unlängst angehäuften Probleme in Summe erheblich ernster als in den Jahren zuvor: das Scheitern der „Zero-Covid Strategie“, ein beunruhigend schwaches Wirtschaftswachstum, die politischen Probleme des russischen Krieges gegen die Ukraine.
Russlands Krieg gegen die Ukraine war eine Art „Lackmustest“. Er brachte die Führung in eine äußerst unkomfortable Lage. Sie sah sich zu einer – auch nur leisen – öffentlichen Kritik Russlands nicht in der Lage. Xi Jinping hatte Putin am Vorabend der Olympiade unverbrüchliche Freundschaft gelobt („friendship with no limits“), um ein paar Wochen später festzustellen, dass aus der angekündigten „Spezialoperation“ ein brutaler Angriffskrieg geworden war. Dieser offenbarte zudem die Schwäche des russischen Militärs (eine Lektion auch in Sachen Taiwan!). Seitdem navigiert Peking zwischen 2 Polen: einerseits Schulterschluss mit dem russischen Alliierten, an dessen politischer Schwächung Peking kein Interesse haben kann, andererseits Vermeidung westlicher Sanktionen, die schwere Risiken für die chinesische Wirtschaft bergen würden.

“Autokraten unterliegen nach Jahren der Alleinherrschaft schweren Irrtümern – es fehlt an Kontrolle, Verantwortlichkeit und Fehlerkultur.”

Wie sieht die Zukunft Chinas mittelfristig aus? Ist Chinas Aufstieg zur Weltmacht Nummer 1 unaufhaltbar? Skeptiker weisen auf gravierende strukturelle Schwächen hin: die ungünstige Demographie, die gewaltige Verschuldung, massive Infrastrukturprobleme, die „middle income trap“ und bedrohlich sinkende Wachstumsraten. Auf der anderen Seite der Gleichung stehen beeindruckende technologische Fortschritte, die noch vor 10 Jahren unmöglich erschienen. Die Vorteile des massiven chinesischen Dateneinsatzes gepaart mit einer systematischen staatlichen Technologie-Strategie begünstigen eine erfolgreiche technologische Aufholjagd Chinas. Gleichzeitig stärkt Peking mit seiner „dual circulation strategy“ seine Resilienz und Unabhängigkeit vom Westen.
 
Einerlei zu welcher „Denkschule“ man tendiert: die jüngste Geschichte hält eine im Grunde triviale Lektion bereit. Autokraten unterliegen nach Jahren der Alleinherrschaft schweren Irrtümern – es fehlt an Kontrolle, Verantwortlichkeit und Fehlerkultur. Denken wir an Putin, Erdogan oder eben Xi Jinping. Diese Hypothek liegt auch auf Chinas Zukunft.

Europa

Europa traf der Schock des russischen Krieges naturgemäß am härtesten. Politisch drohte sich die Ost-West- Konfliktlinie in der EU weiter zu verschärfen, sahen sich die Osteuropäer doch in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Der wirtschaftliche Schaden lag unmittelbar auf der Hand. Schwere soziale Verwerfungen deuteten sich durch die explodierenden Energie- und Nahrungsmittelpreise an. Die Resilienz der EU wurde plötzlich auf eine ungeahnt harte Probe gestellt.

 

Auf der anderen Seite passierte Erstaunliches: das transatlantische Verteidigungsbündnis zeigte sich von seiner besten Seite: Es agierte rasch, geschlossen, dabei besonnen. Die EU stellte in Rekordzeit ein umfassendes Sanktionsregime auf die Beine. Und sie mobilisierte umgehend erhebliche finanzielle Ressourcen zur Unterstützung der Ukraine – einschließlich Waffenkäufen – und zur Abmilderung der Energiekrise. Die EU bewies Handlungsfähigkeit (trotz Ungarn).
So weit, so gut. Allerdings ist ein Ende des Krieges nicht abzusehen. Wird die bislang gezeigte Resilienz der EU dauerhaft sein, auch dann, wenn Russlands Krieg zu einer Art „neuen Normalität“ wird? Zweifel sind erlaubt.

“Mit dem plötzlichen Ende der europäischen Friedensordnung wurden nun auch schlagartig andere geopolitische Herausforderungen für Europa deutlich: Besonders die Gefahren für die europäische Sicherheit.”

Mit dem plötzlichen Ende der europäischen Friedensordnung wurden nun auch schlagartig andere geopolitische Herausforderungen für Europa deutlich: Besonders die Gefahren für die europäische Sicherheit, sollte sich die USA nach 2024 wieder von Europa abwenden. Und die politischen, vor allem aber wirtschaftlichen Risiken, die sich für Europa aus dem wachsenden Antagonismus zwischen den Großmächten USA und China ergeben. Für kein anderes europäische Land steht dabei so viel auf dem Spiel wie für Deutschland.

 
Der Handlungsbedarf für Europa und Deutschland ist offenkundig –  hier nur ein paar Stichworte:

  • Jetzt muss die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen materiellen und institutionellen Schub erhalten.
  • Die EU muss den Weg zu einer geopolitischen Kraft einschlagen: sei es durch eine schlagkräftigere europäische Außenpolitik mittels Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips, sei es durch die Abwehr ökonomische Zwangsmaßnehmen Dritter.
  • Die EU ist eine Handelsweltmacht. Sie muss alle Möglichkeiten im Handels- und Technologiebereich ausschöpfen und ihr Netz der weltweiten Freihandelsverträge weiter knüpfen.
  • EU und USA sollten eine gemeinsame China-Strategie anstreben, um die Hoheit bei den Schlüsseltechnologien und im internationalen Normensystem zu erhalten; aber auch bei aller Rivalität gemeinsame Felder der Kooperation mit China zu bewahren – etwa beim Klimaschutz.

Der „Globale Süden“

In den Tagen nach dem russischen Überfall am 24. Februar schien die Welt in zwei Blöcke zerfallen: den Westen plus asiatische Verbündete versus Russland und China. Doch der Schein trog. Viele Länder des „globalen Südens“ sträubten sich gegen eine neue geopolitische Bipolarität – unter Ihnen Schwergewichte wie Indien, Brasilien, Mexiko, Südafrika oder die Golfstaaten.

“Dass Russland isoliert sei, entsprach einer eurozentrischen Weltsicht und einem Schuss Wunschdenken.”

Dass Russland isoliert sei, entsprach einer eurozentrischen Weltsicht und einem Schuss Wunschdenken. In den Abstimmungen der Vereinten Nationen fanden sich in der Tat nur wenige Unterstützer Moskaus – eigentlich nur sog. „Schurkenstaaten“. Aber erstaunlich viele Regierungen, besonders auf dem afrikanischen Kontinent, entzogen sich einer Verurteilung Moskaus und blieben neutral. Aus unterschiedlichen Motiven: Abhängigkeit von russischen Waffen- und Energielieferungen, Gleichgültigkeit gegenüber dem Ukraine-Konflikt, Widerwillen, sich dem „westlichen Lager“ anzuschließen, dem Doppelzüngigkeit vorgeworfen wurde. China und Russland werben nun aktiv um sie: China rief eine sog. „Global Security Initiative“ ins Leben, sie soll Staaten im Kampf gegen die US-Hegemonie zusammenbringen. Auch die Erweiterung der BRICS um neue Mitglieder wurde diskutiert.
 
Es dauerte eine Weile, bis die Sekundäreffekte des russischen Ukraine-Krieges den globalen Süden trafen – dann aber massiv: durch eine ernste Nahrungsmittel- und Energiepreiskrise. In Afrika, in Ländern des Nahen Ostens, auch in Teilen Lateinamerikas sind die Auswirkungen dramatisch. In einigen Ländern stand die politische Stabilität auf dem Spiel. Das internationale „blame game“ nahm Fahrt auf: Was ist für die Misere des „Globalen Südens“ verantwortlich: Putins Krieg oder die westlichen Sanktionen? Wir sollten a priori nicht von einer allgemeinen Zustimmung zur westlichen Lesart ausgehen.

Welche neue Ordnung kristallisiert sich heraus?

Sind ihre Konturen schon erkennbar?

  • Wir leben in einer multipolaren Welt. Die globale Dominanz der Weltmacht USA – ihr „unipolar moment“ – ist lange vorbei. Keine andere Macht ist an ihre Stelle getreten. Die Architektur des Multilateralismus, der internationalen „governance“ ist durch den russischen Krieg erschüttert worden: Der UN-Sicherheitsrat, wichtige Sonderorganisationen der Vereinen Nationen, die G20 sind nur noch eingeschränkt handlungsunfähig. Eine Reform dieser Strukturen, einschließlich der Bretton Woods Institutionen – so dringlich sie wäre – ist indes derzeit chancenlos.
  • In Europa werden wir uns auf eine konfrontative Periode einstellen müssen, solange das System Putin fortbesteht. Russland wird versuchen, den Kampf gegen den Westen auch auf Schauplätze außerhalb Europas zu tragen: nach Afrika, in den Nahen Osten, nach Lateinamerika. Russische Cyber-Angriffe und hybride Kriegsführung werden weiter zunehmen. Die langfristig unverzichtbare Aufgabe, eine neue gesamteuropäische Friedensordnung zu schaffen, bleibt auf absehbare Zeit Zukunftsmusik.
  • Das geopolitisch bestimmende Moment der nächsten Jahrzehnte ist die Rivalität zwischen USA und China. Ob in diesem Verhältnis neben antagonistischen Zügen auch kooperative Elemente zur Lösung globaler Fragen (Klima, Gesundheit, nukleare Nicht-Verbreitung) Platz haben, ist noch nicht ausgemacht. Wichtige Schauplätze der Weltpolitik werden sich weg von Europa hin zum asiatisch-pazifischen Raum und in den Nahen Osten verschieben.
  • Global wird der ideologische Systemwettbewerb zwischen Demokratien und Autokratien schärfer werden. Um die Schwellenländer des globalen Südens, wird gerungen werden.
  • Wirtschaftlich damit einhergehend wird im Lager der Demokratien die Tendenz zum wertebasierten Handel zunehmen. Die US-Finanzministerin Yellen nennt das „free, but secure trade““– im Klartext heißt das: Handel mit gleichgesinnten Partnern – und „friend-shoring“. Starke Strömungen in der öffentlichen Meinung europäischer Länder zeigen in die gleiche Richtung. Diese Tendenz bedeutet zwar nicht die De-Globalisierung, aber eine stärker regional ausgerichtete Globalisierung. Lieferkettenschwächen und makroökonomische Faktoren sind ebenfalls Treiber dieses Trends.
  • Die Gemengelage der internationalen Beziehungen ist mehr denn je im Fluss. Eine künftige Ordnung ist noch nicht in Sicht. Der Politikwissenschaftler Ian Bremmer spricht von einer „G-zero“-Welt. Vielleicht sollten wir uns in der Tat auf eine Mehrzahl von parallelen Ordnungen einstellen: bei Militär- und Sicherheit auf fortgesetzte Dominanz der USA, in der Wirtschaft auf stärkere Multipolarität – Europa gehört dazu, bei Technologie auf die Konkurrenz zwischen USA und China und bei Klima auf eine multinationale und „multi-stakeholder“ Ordnung. Kurzum: eine multipolare Welt – ohne Hegemon, mit parallelen Ordnungen in verschiedenen Bereichen: eine komplexere, unübersichtlichere und weniger sichere Welt als die, die wir bisher gekannt haben.
  • Ein letztes Wort: erstaunlich ist, wie sehr das Schicksal der internationalen Ordnung nicht nur von wirkmächtigen strukturellen Kräften abhängig ist, sondern auch von individuellen Herrscherfiguren: heißen sie Putin, Xi Jinping, Trump oder Biden – oder eben andere, neue Führungspersönlichkeiten. Die Zukunft ist also nicht gänzlich vorherbestimmt, sie bleibt offen. Darin mag – bei aller Krisendüsternis – ein Stück Hoffnung liegen.
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